Was heißt hier Sozialismus?

Der Begriff schillert. Im marxistischen Kontext steht „Sozialismus“ allgemein für Übergangsgesellschaft zum klassenlosen Weltkommunismus. Innerhalb der Linkspartei und um sie herum wird Sozialismus meist mit einer Zukunft oder Politik identifiziert, in der „sozialistische Werte“  wie etwa „soziale Gerechtigkeit“ vorherrschen und „die Gier nach Maximalprofiten“ überwunden ist.  Zur Abgrenzung vom so genannten Realen Sozialismus fällt auch der Begriff Staatssozialismus,  was also die Vorstellung einschließt, hier handelte es sich um eine besondere (wenn auch nicht besonders gelungene) Form „des“ Sozialismus.

Aber wie sozialistisch waren die einstigen Ostblockländer wirklich? Gibt es keine rational nachvollziehbaren Kriterien normativer Art nach denen (vergangene oder künftige) Gesellschaften nach Indikatoren abgesucht werden können, an denen die mehr oder auch weniger starke Anwesenheit bzw. Abwesenheit von „Sozialismus“  abgelesen werden kann?

Wer den Gedanken an eine „Diktatur des Weltproletariats“ mehr als fragwürdig findet, weil

  • die Gefährlichkeit der marx-engelschen Koketterie mit dem Begriff der „Diktatur“ inzwischen auf der Hand liegt, (auch wenn sie sich diese „Diktatur“ als eine soziale Herrschaft der Weltbevölkerungsmehrheit und also in der politischen Form einer Weltdemokratie vorgestellt hatten), und weil
  • „Proleratiat“ als strukturelles Element kapitalistischer Verhältnisse („variables Kapital“) ja just als menschenunwürdige Existenzform identifiziert wurde und in dem Moment aufhört „Proletariat“ zu sein, wie es sich aus diesen Verhältnissen emanzipiert,

und wer nun Festlegungen darüber treffen möchte, was die Übergangsgesellschaft  im Wesentlichen als eine charaktirisiert, die soziale Befreiung aus der bornierten  Klassenlage bringt,  könnte sich vielleicht mit folgender Bestimmung anfreunden.

  1. Im „Schoße der alten, kapitalistischen Verhältnisse“ existiert bzw. wächst Sozialismus (unabhängig vom Selbstverständnis seiner Träger) als sozialer Prozess, der im wachsenen Maaße zunehmend mehr Menschen befähigt, die menschlichen bzw. von Menschen beeinflussten Mittel der Existenzsicherung und Bereicherung  (mitsamt des diesen „Produktionsmitteln“ inne wohnenden Destruktivvermögens) nach – in sozialer und ökologischer Hinsicht  – gemeinsam reflektierten, und in so fern rationalen Maßstäben entwickeln und anzuwenden zu können.
  2. Von einer sozialistischen Gesellschaftsformation kann (unabhängig von deren Benennung) gesprochen werden, in so weit die Verallgemeinerung des Vermögens, miteinender Nutzen, Schaden oder Risiken von Produktivität und Produktion antizipieren und adäquate Produktionszwecke, -methoden, -qualitäten, -mengen, -orte oder Einwirkungen auf die natürliche Mitwelt aushandeln zu können, der (weltweit) vorherrschende soziale Prozess ist.

Eine solche Bestimmung sehe ich als Bedingung der Möglichkeit eines rationalen Diskurses.  Denn wie sonst könnte mit  sozialwissenschaftlichen Methoden reale Existenz, Abwesenheit, Notwendigkeit oder Möglichkeit von „Sozialismus“ erfasst werden, und wie sonst wäre es möglich, sich ein Bild von der Sache zu machen, das nicht durch bornierte Macht oder Ohnmacht,  Rechtfertigungsinteressen und entsprechenden Wahrnehmungsmustern konstruiert ist?  Wie sonst also wäre eine sachliche Diskussion des Gegenstandes möglich?

Eine solche Bestimmung schafft den Boden für empirische Forschung,  kann sie aber natürlich nicht ersetzen.  Eine „empirische Widerlegung“ der marx-engelschen Perspektiven aufgrund deren Einmauerung in die Rechtferigungsideologien „vormundschaftlicher Staaten“ staatsparteilicher Sozialismusversuche des letzten Jahrhunderts könnte sich auf einer solchen Grundlage allerdings auch als „zu früh gefreut“ (oder geärgert) heraus stellen.

In dem Zusammenhang ist es interessant, was Marx und Engels in iheren Selbstverständigungsschriften als Voraussetzung einer „Aufhebung von Entfremdung“ sahen.

Siehe dazu auch die Ausführungen von Thieß Petersen über “ Subjektive Voraussetzungen für die Transformation der kapitalistischen Gesellschaft“ im Glasnost Archiv

Zum Schluss: Keine Mitverantwortung für falsche Wege?

hhirschel

7 Responses to Was heißt hier Sozialismus?

  1. hhirschel sagt:

    Vorherrschender sozialer Prozess konnte eine Befähigung zum kommunistischen Miteinender in den ehemaligen Republiken des so genannten „Realen Sozialismus“ allein deshalb nicht sein, weil dies eine blühende zivile Streitkultur und also die Möglichkeit zum freien, offene Diskurs voraussetzt. Und genau das konnte der jeweils herrschende parteibürokratisch-militärische Komplex nicht zulassen, ohne zugleich seine dünne Machtbasis (die militärisch abgesicherte bürokratische Verfügung über die Mittel der Entwicklung und Anwendung der Produktion) komplett zu verlieren.

    Sozialismus kann eben ohne Demokratie nicht funktionieren!

    Interessant wäre aber dennoch, zusammen zu tragen, was diese Befähigung zum Kommunismus im Einzelnen verhinderte und was diese vielleicht auch förderte.

    Wissenschaftlicher Sozialismus?

    Soziale Prozesse, die zur Mitbestimmung bei der sozialen (und ökologisch reflektierten) Entwicklung und Anwendung von Produktionsmittel befähigen, (und in sofern eben sozialistische Realität) scheiterten schon an der realen Wissenschaftsfeindlichkeit der herrschenden Elite, die eben auch Bedingung ihres Machterhaltes war. Deren Phrasen von „wissenschaftlichem Sozialismus“ und „wissenschaftlicher Weltanschauung“ aus denen sie ihre „führende Rolle“ ableiteten, ähnelten denn auch der Behauptung des „Gottesgnadentums“ mit denen feudale Herrscher ihre Macht zu legitimieren trachteten.

    Beispielgebend ist das Verhalten des „militärisch-bürokratischen Komplexes“ der DDR gegenüber spontanem Forschungsdrang seiner „Staatsbürger“. Glibert Furian interessierte sich für die aufmüpfige Kultur Ostberliner Punks und fertigte Interviews an. Aber die DDR Oberen meinten (wohl nicht zu unrecht), sich nur an der Macht halten zu können, indem sie alle Wissenschaft und Journalistik unterdrückten, die für die Legitimität ihrer Herrschaft unangenehme Wahrheiten offenbaren könnten. Also musste der Report heimlich angefertigt werden.

    Ergebnis waren historische Dokumente von unschätzbarem Wert aber auch endlose Stasi-Verhöre in deren Konsequenz die Freundin nicht mehr Buchbinderin und die Ex-Ehefrau nicht mehr Leherin sein durfte – und zwei Jahre und zwei Monate Gefängnis für den Hobbyforscher.

    Verurteilt wurde er wegen

    „Anfertigens von Aufzeichnungen, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden“.

    Quelle: Taz vom 11.01.08 (http:www.taz.de)

    Gibt es einen schlagenderen Beweis für die Abwesenheit von Sozialismus? Mitbestimmung der Frage, wie und womit ein Nutzen produziert oder ein Schaden verhindert werden könnte, (was notwendig Mitbestimmung darüber voraussetzt, was überhaupt ein Nutzen bzw. Schaden sein soll) muss als wesentlicher Indikator für die Anwesenheit von „Sozialismus“ gesehen werden. Das aber war nicht nur nicht erwünscht sondern wurde sogar als ein kriminelles Vergehen verfolgt.

    Sympatischerweise bekennt sich Glibert Furian in einem Taz-Gespräch mit Kathleen Fietz zur seiner „nativen Hoffnung“ der Wendejahre „auf ein ostdeutsches Gemeinwesen ohne die alten Machthaber aber auch ohne den reichen Bruder aus dem Westen“. Doch leider waren die Verhältnisse. d.h. die ökonomischen und kulturellen Bedingungen nicht so.

    G. F. führt heute Schulklassen durch den Stasiknast von Hohenschönhausen. Mehr Sozialismus kann u.a. auch durch eine Beteiligung an einer solchen Führung gewagt werden.

    hhirschel

  2. […] Sozialismus, verstanden als von der gegenwärtigen Weltgesellschaft ausgehendes Werden, als Prozess der Befähigung zur gesellschaftlichen (am Ende weltgemeinschaftlichen) Steuerung des menschlichen Füreinanders, kann nun einmal nicht anders als von der gegenwärtig vorherrschenden Produktionsweise ausgehen, also von der kapitalistischen Warenproduktion. Die kann nicht einfach abgeschafft, sie kann nur – allerdings zunehmend gezielt – überwunden werden. […]

  3. hhirschel sagt:

    Sie war eine Konstrukteurin der „Perestroika“, Soziologin, Ökonomin. Tatjana Saslawskaja ist am 13.August 2013 gestorben. In den 1980er Jahren hatte ich Anlass, ein wenig von ihr zu lesen. Nachhaltigen Eindruck machte auf mich, was sie als ein bezeichnendes Beispiel für die staatsdirigistische Form der „Entfremdung“ (zwischen Produktion und Konsum) im Sowjetstaat schilderte.

    Die staatliche Planvorgabe war, eine bestimmte Anzahl Mähdrescher herzustellen. Die wurden dann staatlicherseits „aufgekauft“ und den landwirtschaftlichen Produktionsbetrieben übergeben. In der zuständigen Produktionsstätte für landwirtschaftliche Gerätschaften kam man daraufhin auf die schlaue Idee, den staatichen Planvorgaben dadurch gerecht zu werden, dass man an die dort gewöhnlich produzierten Traktoren einfach Mähdreschvorrichtungen anbaute. Die Idee war genial, hatte aber den Nachteil, dass die „Mähtraktoren“ durchschnittlich 80 % ihrer „Lebenszeit“ in der Reperaturwerkstätten der Kolchosen usw. standen. Was allerdings niemand störte.

    Alle waren zufrieden. Die zuständige Fabrik konnte den Plan bequemstens übererfüllen, die Staatsplaner konnten das als ihren höchstpersönlichen Erfolg verbuchen und die Arbeit in den Reperaturwerkstätten war beliebt. Netter als der Erntestress auf dem Feld. Eine irgendwie geartete Kopplung von Einkommen und Effizienz der landwirtschaftlichen Betriebe gab es nicht. Das währte mehr als 10 Jahre, denn es gab keine Instanz, die den angerichteten volkswirtschaftlichen Schaden hätte registrieren, geschweige denn skandalisieren können – oder wollen (!).

    Für mich zeigte das sehr anschaulich, warum „Sozialismus“ nicht ohne vollkommene Transparenz und Meinungsfreiheit bzw. tatsächlichen Möglichkeiten eines gesamtgesellschaftlichen Meinungsaustausches funktionieren KANN. Wenigstens solange man unter „Sozialismus“ eine Gesellschaft im Übergang zu einem (vor allem auch globalen) Füreinander versteht, das auf Basis wirklich gemeinschaftlich formulierter / verantworteter Produktionsziele, -methoden, -bedingungen, -kosten (sozialer bzw. ökologischer Natur) funktioniert.

    Der Wikipedia-Eintrag über Tatjana Saslawskaja ist leider etwas dünn. Einen kleinen Eindruck ihrer Sicht auf die Dinge ermittelt ein ZEIT-Artikel aus dem Jahre 1989 von Harry Maier.

    hhh

    Auch die anderen ZEIT-Beiträge von Harry Maier über die „Wendezeit“ scheinen lesenswert.

  4. […] was ich in meinen Thesen im About mehr (Öko-) Kommunismus wagen bez. mit der Reflektion Was heißt hier Sozialismus? versucht habe? Der erste Teil des Untertitels  seiner Intervention klingt vielversprechend, der […]

  5. […] vorherrschend wäre. (Siehe Was heißt hier “mehr (Öko-)Kommunismus wagen ;-)?” bzw. Was heißt hier Sozialismus?)   Später mehr.   Gruß hh (am […]

  6. […] Beispiel des so genannten “Realsozialismus” und dessen Missinterpretation als kommunistische Diktaturen muss unter diesen Umständen auch für die der subalternen Kapitalkasse angehörigen Kreise jeder […]

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