Eine interessante Annäherung an die „S“ Frage nach „einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ verspricht Elmar Altvaters und Raul Zeliks „Vermessung der Utopie – Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft“. Der auch im Netz zum freien Download bereit stehende Text basiert auf Mitschnitten von Gesprächen, was entschieden zu dem sympathischen Charakter des Sich-Vorwärts-Tastens beigetragen haben dürfte.
Als (guter) Einstieg sei die Lektüre der voran gestellten 10 Thesen empfohlen.
Nun also zu meinen Anmerkungen:
1) Meine erste Anmerkung bezieht sich auf den Werbetext in dem es heißt:
Ob Klimawandel, industrielle Überkapazitäten, Arbeitslosigkeit oder Verteilung des Reichtums – der »freie Markt« scheint grundlegende soziale und wirtschaftliche Probleme nicht lösen zu können.
Nun sind Klappentexte natürlich notwendig verkürzt. Dennoch: Das zu lösende Problem wäre mit dem Hinweis präziser beschrieben, dass „der freie Markt“ grundlegende soziale und wirtschaftliche Probleme nicht nur nicht löst sondern diese mit größtmöglicher Effizienz schafft.
2) In These 3 der 10 Thesen heißt es:
„Das Problem eines linken Gegenentwurfs besteht also nicht darin, dass er unrealistisch wäre. Unrealistisch ist, so weiter zu machen wie bisher und um der Kapitalmehrung willen Natur und Menschen immer umfassender in Wert zu setzen. Das Problem des linken Gegenentwurfs ist, dass es hier um Macht geht.“
Der Blick auf katastrophale Wirkungen der „In Wert Setzung“ von Natur wie etwa Tropenholz, Böden in trockenen Regionen (für die über saisonale Versorgung mit „Südfrüchten“ oder Baumwolle), Meeresfrüchte usw. aber auch menschlicher Arbeitskraft ) oder auch von Kultur (indigenes Wissen um Naturschätze, „Beziehungsarbeit“, gemeinsames Musizieren usw.) sollte nicht dazu verführen, einen Haupt-Gegensatz zwischen einer paradiesischen Sphäre des Natürlichen und einer Sphäre des barbarisch „In-Wert-Gesetzten“ zu konstruieren. Das sei hier nicht unterstellt. Aber eine klare Abgrenzung täte Not. Denn natürlich ist es nicht egal, welche sozialen Kräfte und Rechtfertigungsbeziehungen innerhalb des „In-Wert-Gesetzten“ wie wirken bzw. zu verändern wären.
3.) zu These 4. Dort heißt es u.a.
Das heißt nicht, dass die im Rahmen neoliberaler Politik privatisierten Betriebe wieder in staatlichen oder kommunalem Besitz übergehen müssten. Aus demokratischer Perspektive interessanter und wahrscheinlich auch ökonomisch effizienter sind genossenschaftliche oder gemeinschaftliche Eigentumsformen. Im Gesundheitswesen könnte beispielsweise ein konkreter Schritt im Aufbau einer demokratisch – von Gesundheitsarbeitern und Patienten – verwalteten Bürgerversicherung bestehen, in die alle Menschen gemäß ihres Einkommens einzahlen.
Ohne weiteres ist es für mich nicht einsehbar, wieso „staatlicher und kommunaler Besitz“ für alle Zukunft ineffizient und einer (ökologisch kompetenten) sozialen Kontrolle unzugänglich sein muss. Hier wäre besser die Notwendigkeit formuliert, gemeinsam heraus zu finden, was bei verschiedenen staatlichen oder zivilen „Eigentumsformen“ für die Entwicklung einer hinreichenden (und hinreichend ökologisch kompetenten) sozialen Kontrolle bzw. Mitbestimmung geschehen, welche bestehenden Entwicklungen dafür gestärkt und was dafür auch neu „erfunden“ werden müsste. Dabei stellt sich die Frage, für welche Bedürfnisse und Interessen jeweils Möglichkeiten der institutionellen (Mit-) Bestimmung von Zweck, Mittel und Nebenwirkungen erweitert oder neu geschaffen werden sollten. Bei einer selbst verwalteten Krankenversorgung könnten das z.B. durchaus über den Kreis der Gesundheitsarbeiter und Patienten hinaus reichen.
3) Zu These 6. Dort heißt es u.a.
Die technische Entwicklung macht es möglich, dass heute mehr Güter mit weniger Arbeit hergestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist die gewerkschaftliche Forderung „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ ziemlich absurd. Es gilt vielmehr, den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum und die weiterhin notwendige Arbeit anders zu verteilen. Die Instrumente dafür sind seit Langem bekannt (und zum Beispiel in André Gorz’ „Kritik der ökonomischen Vernunft“ nachzulesen): Verringerung der Arbeitszeit, Grundeinkommen, Mindestlohn, faire Verteilung fremdbestimmter Tätigkeiten etc.
4) Alles richtig. Für die „Vermessung einer postkapitalistischen Utopie“ bzw. Erörterung der für eine Ökonomie der ökologisch reflektierten Mitmenschlichkeit zu gehenden oder auch zu ebnenden Wege gehört m.E. auch auch zentral die Frage nach sozialen Formen der (Mit-) Bestimmung der Verwendung (und Kosten!) von Produktivitätsgewinnen.
Die „Eigentumsfrage“ wird allerdings in These 10 noch einmal explizit gestellt:
All diese Punkte sind mit der Eigentumsfrage verschränkt: Entscheidungs- und Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft haben immer auch mit Eigentumsformen zu tun (wobei es hier nicht um Eigentum am eigenen Wohnhaus oder am kleinen Handwerksbetrieb geht). Eine Gesellschaft, die auf Privateigentum von Produktionsgütern beruht, bringt enorme Reichtums- und Machtkonzentrationen hervor. Aber auch die auf Staatseigentum beruhenden Gesellschaften haben sich unfähig zur Demokratisierung erwiesen. Es muss also darum gehen, das gesellschaftliche Eigentum neu zu bestimmen und zu erfinden. Die Verwaltung von Eigentum muss in einem solchen, überschaubaren Rahmen stattfinden, dass Produzenten, Konsumenten und gesellschaftliche Akteure demokratisch über den Einsatz des Eigentums bestimmen können.
5) Was allerdings die Frage aufwirft, was in der globalisierten Welt „Überschaubarkeit“ bedeutet bzw. wie diese ohne eine Fetischisierung des Regionalismus und einer auf „Klein ist immer fein“ Fixierung herstellbar wäre.
(…)
Nach nunmehr etwa 2 Jahren möchte ich das damals aus Zeitgründen Versäumte nunmehr nachholen, und einen etwas tieferen Blick in das Gesprächsprotokoll werfen. Der von Raul Zelik als Ausgangspunkt gewählte Auszug aus einem Text von Dietmar Dath ist schon einmal sehr vielversprechend
Zelik: Dietmar Dath, einer der wenigen jüngeren deutsch sprachigen Schriftsteller, die heute deutlich antikapitalistische Positionen beziehen, hat 2008 das Buch »Maschinenwinter. Streitschrift für den Sozialismus« veröffentlicht. Darin heißt es:
Dath: » Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten. (…) Selbstverständlich ist eine Gesellschaft widerlich, die all diese Dinge sogar in ihren leidlich gepolsterten Gewinnergegenden zulässt; (…) doch unanständig, schweinisch, obszön, widerlich: Davon rede ich nicht.
Moral ist Glückssache und setzt Deckung der wichtigsten Lebensbedürfnisse voraus; meistens hat man andere Sorgen. Ich rede (…) davon, dass das alles nicht vernünftigist und deshalb nicht funktionieren kann. Wer es sich kalten Herzens, wachen Auges anschaut und dann noch ruhig zu verneinen imstande ist, dass möglich sein muss, die Dinge besser einzurichten, ist nicht böse, sondern entweder faul genug, sich betrügen zu lassen, oder vom Geburtszufall ausgelost worden, die im Ganzen seltene, vorläufig aber noch ganz einträgliche Elendsgewinnlerei betreiben zu dürfen, an der dieses Ganze krankt.« (S.16)
Dazu Zelik:
„Das scheint mir ein guter Ausgangspunkt zu sein: Das System, in dem wir leben, das wir leben, das durch uns lebt, ist nicht in erster Linie unmoralisch. Es ist vor allem unvernünftig, irrational, ineffizient.
Demnächst mehr
Schon wieder ein Jahr ist vergangen! Also Zeit für einen erneuten Blick in die Vermessung der Utopie.
Noch einmal ein Blick auf die Seiten vor dem oben zitierten.
Raul Zelik: Ein Nicht-Ort, »ein Land, das noch nicht ist«, lässt sich schlecht ausmessen. Vielleicht aber lässt sich zunächst bestimmen, wo dieses Land nicht liegt. Denn ich glaube, die gescheiterten Emanzipationsversuche in der Geschichte der Menschheit erlauben so etwas wie eine negative Vermessung; man kann daran ablesen, wie es nicht geht. (S.7)
6) Das kann nicht oft genug betont werden. Mehr (Öko-)Kommunismus zu wagen verlangt nach einer genauen Vermessung des so genannten „Realsozialismus“.
Elmar Altvater: „Wir müssen die Erde umgestalten, sie sozusagen ökologisch herrichten. Denn in den wenigen Jahrhunderten seit der fossilen und industriellen Revolution ist die Natur rücksichtslos ausgebeutet worden. Wir müssen die Klimakatastrophe verhindern und dafür sorgen, dass der sich verschärfende Kampf um Rohstoffe nicht in ein Gemetzel mündet. Wir müssen verhindern, dass Finanz- und Wirtschaftskrise die sozialen Gegensätze nicht noch weiter verschärfen. (S. 9-10)
(…)
Wir brauchen also eine Reflexion über utopische Entwürfe und müssen beantworten können, inwieweit diese Entwürfe einigermaßen realistisch sind. Ob sie tauglich sind, müssen wir daran messen, ob sie den Menschen ein gutes Leben ermöglichen – in ökologischer, sozialer, politischer Hinsicht. Ob sie ermöglichen, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, die Natur zu bewahren – aber auch, ob sie zu einer herrschaftsfreien Welt führen, in der die Menschen ihr Leben, auch ihr Arbeitsleben, selbst gestalten können und nicht nur Untertanen sind (S.10-11)
„Das System, in dem wir leben, das wir leben, das durch uns lebt, ist nicht in erster Linie unmoralisch. Es ist vor allem unvernünftig, irrational, ineffizient“
„Das ist seit Beginn des Bürgertums bekannt. (…) Nicht die Tugend, sondern das lasterhafte, das »schweinische« Verhalten hält den ökonomischen Kreislauf in Gang und steigert so den »Wohlstand der Nationen«. Wo es kein Verbrechen gibt, braucht man keine Schlösser, wo es keine Schlösser gibt, braucht man keinen Schlosser, und wo es keinen Schlosser braucht, gibt es keine Arbeit. (…) eine Gesellschaft, die das private Laster – die Verdrängung des Anderen – braucht, um eine öffentliche Tugend – ökonomischen Zugewinn – herzustellen, kann aber nur unvernünftig sein.“ (S.16)
Raul Zelik: „Man könnte es auch so ausdrücken: Die Marktwirtschaft ist ein paradoxes System. Der Markt existiert, weil wir die anderen, weil wir die Gesellschaft brauchen. Von den Früchten seiner spezialisierten Arbeit kann niemand leben. Kein Bäcker kann tausend Brötchen am Tag essen. Und ein Büroangestellter zieht überhaupt keinen Gebrauchswert aus den von ihm durchgearbeiteten Dokumenten. Erst durch die Vergesellschaftung unserer Arbeit erhält diese einen Nutzen.Paradoxerweise funktioniert die Vergesellschaftung unseres Lebens über den Markt, wo wir uns als Konkurrenten begegnen und Verdrängungskämpfe miteinander oder besser: gegeneinander führen. Die Arbeitsteilung beruht also auf Kooperation – der Markt hingegen auf Konkurrenz und Kampf.“ (S. 17)
„In den Krisen zeigt sich jedoch die verschwenderische Seite des Marktes auf drastische Weise: In den letzten Monaten sind Werte in Milliardenhöhe zerstört worden. Um die Preise unverkäuflicher Waren zu halten, werden mühsam hergestellte Güter vernichtet – gerade auch Nahrungsmittel.“
Elmar Altvater: „Warum nun ist eine Marktwirtschaft verschwenderisch? Weil ihre Teilnehmer einer mikroökonomischen Rationalität folgen, die mit der makroökonomischen Vernunft nicht deckungsgleich ist.“ (S.18)
(…)
Raul Zilek wirft ein:
Das ist der Grund, warum der Staat selbst in den liberalsten Ökonomienweiter eine bedeutende Rolle spielt. (S. 19)
11.) Die Bedeutung des Charakters staatlicher Apparate, Regularien,Tätigkeiten, Abhängigkeitsverhältnisse usw. für die Frage der sozio-ökologischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Rationalität (=Zweckdienlichkeit) von Produktion und die Frage möglicher Bedeutungswandel von Staatshandeln in dieser Hinsicht, ist an dieser Stelle allerdings kein Thema. (Vielleicht aber kommt das Gespräch später darauf zu sprechen. Den Rest meiner Auseinandersetzung mit dem insgesamt doch sehr anregenden Vermessungsgespräch wird nun hoffentlich nicht erneut in von Jahr zu Jahr aufgelesenen Häppchen geschehen, so dass ich in der Hinscht bald aufgeklärter sein werde)
Dem gegenüber steht die ungeheure Dynamik der wertmäßigen, monetären Ökonomie, die nur vom Eigeninteresse der Akteure bestimmt wird – ganz so, als seien diese Interessen losgelöst von der stofflich- natürlichen Seite. (S. 20)
„… die Forderungen, die sich monetär erzeugen lassen, sind grenzenlos. Das Geld angebot kann heutzutage sehr leicht gesteigert werden. Man muss nicht mehr in der Erde buddeln, um Gold herauszuholen. Man braucht nicht einmal mehr Papierzettel. Geld kann einfach immateriell, in Form von Bits und Bytes,erzeugt werden. (ebd.)
12.) Was hier m.E. fehlt, ist eine Unterscheidung zwischen einerseits privateigentümlichem und andererseits (öko-) kommunistischem (oder wer den Begriff nicht mag: mitmenschlichem und ökologisch verantwortlichem) Eigeninteresse. Außerdem besteht das privateigentümliche Eigeninteresse auch bezüglich der stofflich-energetischen (bzw. ökologischen) Seite. Und es sollte gezeigt werden können, welch Hindernis die monetäre Form der Vermittlung von privateigentümlicher Produktion und Konsumtion (deren Ermöglichung und Garatie usw.) für die Herausbildung (öko-) kommunistischer Eigeninteressen bildet.
Rationale ökonomische Koeffizienten müssten auch ganz andere Aspekte berücksichtigen: Lebenserwartung, Zugang zur Grundversorgung, Verringerung ökologischer Belastung usw (S. 21)
Das UN-Entwicklungsprogramm versucht seit Langem,den Wohlstand mit dem alternativen Indikator des Human Development Index also dem Index menschlicher Entwicklung, darzustellen. Andere versuchen, ›Glück‹ anhand von Kennziffern zu bestimmen. Eigentlich wäre es das, was eine Ökonomie zu leisten hat: Sie sollte Glück für die Menschen oder genauer: für eine möglichst große Zahl Menschen ermöglichen. (…)
Die Versuche, Glück, Freude und Wohlbefinden zu messen, sind (…) einigermaßen frustrierend, denn solange die gesellschaftlichen Formen nicht verändert werden, nützen die Indikatoren gar nichts.“
Das Entscheidende ist aber nicht, das durch Indikatoren zu erfahren. Nein, es geht darum, die gesellschaftlichen Formen zu verändern, damit anderen Zielen des Wirtschaftens auch in der Realität Rechnung getragen wird. Daraus folgt die alte Frage nach einer anderen, solidarischen, sozialistischen – wieman auch immer das nennen mag – Ökonomie.(S. 22)
„Interessanterweise sind nun aber sozialistische Ökonomien von denselben Kennziffern ausgegangen. Gerade die sozialistische Bewegung hat sich sehr für die Steigerung von Bruttosozialprodukten, für rücksichtloses Wachstum begeistert. Neue wirtschaftliche Kennziffern würden noch nichts ändern, aber immerhin verdeutlichen, wohin die Reise gehen muss. Wir würden feststellen, dass weder kapitalistische noch staatssozialistische Akkumulation etwas mit gesellschaftlichem Wohlbefinden zu tun haben.“ (S. 22)
die Ökonomie in eine andere Richtung entwickeln müssen und sich nicht am Kapitalismus orientieren dürfen. (…) Das Ziel kann nicht einfach lauten, schneller und besser zu wachsen, als dies unter kapitalistischen Verhältnissen ohnehin geschieht. Der Sozialismus zeichnet sich nicht durch quantitative Unterschiede aus, er müsste etwas qualitativ anderes darstellen. (S.23)
Vor dem Kapitalismus – vor der Trennung von Lohnarbeit und Kapital, vor der Umwandlung fossiler Energien in Arbeitsenergie, vor dem gesellschaftlichen Prinzip, ein Mehrprodukt und einen Mehrwert erzeugen zu müssen – gab es kein Wachstum.
Marx hätte im »Kapital«, Band 1 in einer Fußnote geschildert, wie einst ein Müller wegen Arbeitsplatz sparende Inovationen von aufgebrachten Zeitgenossen ersäuft worden sei. Ähnliches sei auf von Rom bekannt.
Es gab also über einen langen Zeitraum keinen Wachstums- und Innovationszwang, sondern, im Gegenteil, eher einen »Stagnationszwang« (S26)
Die vom Akkumulationszwang ausgelöste Dynamik eine rasante Entwicklung ermöglicht und das Leben unfassbar erleichtert. Oder zumindest könnte diese Dynamik (…) das Leben immens erleichtern, wenn man diese Entwicklung zugunsten der Gesellschaft und nicht zum Zweck weiterer Akkumulation nutzen würde (S. 27)
Wir sind gesellschaftliche Wesen, sind aber daran gewöhnt, unsere Entscheidungen individuell zu treffen, als gäbe es die Gesellschaft nicht. Wir haben es verlernt, gemeinschaftliche Entscheidungen, die unser individuelles Verhalten betreffen, in einem kollektiven Prozess zu fällen.Der Liberalismus – und erst recht der Neoliberalismus – haben zu einer Verstümmelung der Gesellschaftlichkeit unserer individuellen Existenz geführt. Daher ist es in gewisser Weise konsequent, wenn Philosophen wie Peter Sloterdijk in einer Art kleinbürgerlich-kleinkariertem Poujadismus den Beitrag zum Gemein wesen in Form von Einkommenssteuern heftig und empört infrage stellen. Da singt Sloterdijk im Chor mit neoliberalen Ökonomen, lauten Medienstimmen und konservativen Politikern (S.28)
Es kam das Jahr 1929 und eine interessante Entwicklung trat ein: Die kapitalistische Welt brach in den Jahren nach dem Börsencrash ein, und in der Sowjetunion wurde der erste Fünf jahres plan umgesetzt. Während man in der UdSSR zweistellige Wachstumsraten verzeichnete, schrumpften die kaptalistischen Ökonomien um 20,30 Prozent. Die Antwort darauf ist bekannt: Die Keynes’sche Theorie setzte sich durch, wobei ganz ähnliche Konzepte unabhängig von Keynes auch von anderen Ökonomen entwickelt wurden. Es ging darum, die Stagnation zu überwinden. Erst vor diesem Hintergrund entwickelten Stagnationstheoretiker wie der US-Amerikaner Alvin Hansen (1887 – 1975) in den Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren Wachstumstheorien. Dabei ging es darum, den Vorsprung vor der Sowjetunion zu wahren.Heute wird das ja oft vergessen: Bis in die Sechzi gerjahre wuchs das sozialistische Lager – ab 1945 handelte es sich nicht mehr nur um dieSowjetunion, sondern um mehrere Staaten in Ost- und Mitteleuropa sowie Asien – deutlich schneller als die westlichen Länder. Mit dem aufkommenden Systemwettbewerb wurde die Wachstumsrate zum Erfolgsindikator. Erst seitdem ist Wachstum ein so fetischartiger Begriff. (S.30-31)